D. Aeby: Les jésuites à Fribourg en Suisse aux XVIII e et XIXe siècles

Cover
Titel
La Compagnie de Jésus de part et d’autre de son temps de suppression: les jésuites à Fribourg en Suisse aux XVIII e et XIXe siècles.


Autor(en)
Aeby, David
Erschienen
Padova 2020: Padova University Press
Anzahl Seiten
501 S.
von
Samuel Weber, Historisches Institut, Universität Bern

Wie schreibt man Geschichte über eine Leerstelle hinweg? Die Gesellschaft Jesu gab es bekanntlich zweimal. Nach seiner päpstlichen Anerkennung 1540 wurde der Orden 1773 von Clemens XIV. aufgehoben, bevor er 1814 von Pius VII. wieder zugelassen wurde. Im Zuge der Öffnung der ordenseigenen Geschichtsschreibung gegenüber der Geschichtswissenschaft (Stichwort: désenclavement) sind in den letzten beiden Jahrzehnten sowohl die alte wie die neu gegründete Gesellschaft in methodisch teilweise äusserst innovativen Arbeiten erforscht worden. Weitgehend unbeantwortet blieb bisher die Frage, was die alte mit der neuen Gesellschaft zu tun hatte. Dafür müsste die Lücke zwischen 1773 und 1814 geschlossen werden, was sich mangels zentraler Archivbestände als schwierig erwiesen hat. Das Unterfangen gelingt angesichts der organisatorischen Diskontinuität eigentlich nur, wenn man sich auf ein kleinräumiges Territorium beschränkt und die Geschichte der Gesellschaft Jesu über die beiden Zäsuren hinweg auf Grundlage disparater Archivbestände zu rekonstruieren versucht. Genau das ist das Ziel, das sich David Aeby mit dieser an der Universität Freiburg im Üechtland und der École des hautes études en sciences sociales verteidigten Dissertation gesetzt hat.

Wie der Autor in der Einleitung darlegt, will er eine «Mikrogeschichte» der Freiburger Jesuiten in der Sattelzeit verfassen. Seinen Ansatz leitet er einerseits von jüngsten Forschungen zum Jesuitenorden, anderseits von den Klassikern der französischen und italienischen Mikrogeschichte ab. Durch den Fokus auf das Kleinteilige verspricht sich Aeby, die Geschichte der Jesuiten in ihren Kontinuitäten, aber auch in ihren langfristigen Entwicklungen über das Zeitalter ihrer offiziellen Nichtexistenz hinweg aufarbeiten zu können. Mit Hilfe von Quellen aus religiösen und weltlichen Institutionen, die heute in Freiburg, Zürich, München sowie dem Vatikan aufbewahrt werden, will der Autor aufzeigen, dass der Jesuitenorden von Bruchlinien durchzogen war, die nicht nur zwischen Rom und der Peripherie verliefen, sondern auch innerhalb der einzelnen Provinzen und Häuser, die sich in sehr unterschiedliche lokale Kontexte einfügten. In seiner Fallstudie führt der Autor das Konzept der inscription ein, um zu veranschaulichen, wie sich Jesuiten vor, während und nach der Aufhebung ihres Ordens in die Freiburger Gesellschaft einschrieben.

Der erste und längste der drei Hauptteile ist der sozio-politischen Verortung der Freiburger Jesuiten gewidmet. Aus Sicht der Freiburger Führungsschicht bestand der primäre Wert der Jesuiten darin, dass sie mit dem Collège Saint-Michel die einzige Institution für höhere Bildung im Kanton betrieben. Der Auflösung des Jesuitenordens 1773 begegnete die Freiburger Elite deshalb, indem sie das Kolleg unter weltliche Herrschaft stellte und die ehemaligen Jesuiten als Weltkleriker weiter unterrichten liess. Diese relative Kontinuität erleichterte im 19. Jahrhundert nicht nur die Reetablierung des Ordens, sondern verlieh dem Kolleg auch eine internationale Strahlkraft: Dank eines Pensionats für Sprösslinge wohlhabender belgischer und französischer Familien wurde Freiburg zu einem Anziehungspunkt für die restliche frankophonen Welt, in der die Lage der Jesuiten auch nach 1814 prekär blieb. Auf diese Ereignisgeschichte folgen quantitative Auswertungen zum Personal des Kollegs. Dabei verdeutlicht sich ein weiteres Mal, wie sich das Collège von einer höchstens mittelgrossen regionalen Institution im 18. Jahrhundert zu einem «grand centre jésuite» (S. 96) des 19. Jahrhunderts entwickelte. Der Teil wird abgeschlossen durch aufschlussreiche Analysen der wirtschaftlichen und sozialen Beziehungen, die einzelne Jesuiten mit der Stadt und dem Kanton pflegten – etwa als Betreiber einer Apotheke oder als Gelegenheitsdiplomaten während ihrer Wanderjahre innerhalb der oberdeutschen Provinz. Der Autor fasst diese Verflechtungen mit Ansätzen aus der französischen Soziabilitätsforschung und weist dabei auch auf die schwierige Vereinbarkeit dieser weltlichen Händel mit den Idealen des Ordens hin.

Der zweite Teil vertieft die Analyse der Beziehungen zwischen Orden und Freiburg mit einem Fokus auf das Kulturleben. Aeby konzentriert sich dabei auf die Bibliothek, die Studienpläne des Kollegs und gesellschaftliche Anlässe wie die Diplomfeiern mit Theateraufführungen, die regelmässig ein städtisches Publikum ins Kolleg lockten. In allen drei Bereichen dominierte ein Konservativismus, der allerdings gewisse Adaptionen nicht ausschloss. Das gilt etwa für die Zentralität des Lateinischen, die von der römischen Zentrale bis weit ins 19. Jahrhundert verteidigt wurde. Die Freiburger Jesuiten hingegen öffneten sich auch auf Wunsch der städtischen Elite den modernen Fremdsprachen, die zusehends an Bedeutung in den Studienplänen und im Angebot der Bibliothek gewannen. Es wäre jedoch verfehlt, die städtischen Eliten als Innovatoren und die Jesuiten als Bewahrer zu sehen. Aeby kann nachweisen, dass es in gewissen Bereichen des Studienplans durchaus Reformansätze einzelner Jesuiten gab, die jedoch auch auf Bestreben der Freiburger Führungsschicht nie umgesetzt wurden. Gerade im 19. Jahrhundert blieb diese der klassischen Ratio studiorum des Ordens genauso verpflichtet wie die Mehrheit der Jesuiten vor Ort. Insgesamt drängt sich dem Rezensenten der Verdacht auf, dass die alte Gesellschaft Jesu weitaus innovationsfreudiger war als die Neugründung im 19. Jahrhundert, die viel von der Adaptationsfähigkeit der ursprünglichen Jesuiten eingebüsst hatte. Das zeigt sich nicht zuletzt bei den öffentlichen Theateraufführungen, die nach der Restauration weit weniger den Geschmack des Publikums zu treffen schienen als noch im 18. Jahrhundert.

Die abnehmende Anpassungsfähigkeit zeigt sich auch im dritten und letzten Teil der Studie, die der jesuitischen Religiosität gewidmet ist. Der Teil beginnt mit der ordenseigenen Spiritualität. Aeby arbeitet hier die typisch jesuitischen Lese- und Schreibpraktiken auf, mit denen über Zeit und Raum ein Korpsgeist hergestellt wurde. Interessant ist hier insbesondere, wie die ordenseigene Geschichtsschreibung im 19. Jahrhundert das informelle Fortbestehen im Zeitalter der Aufhebung als Zeichen der göttlichen Vorsehung deutete, womit sich die Freiburger Niederlassung von den ärger gebeutelten anderen Häusern abzuheben versuchte. Nicht minder bemerkenswert sind die ordensinternen Konflikte, die um die Bedeutung des Apostolats entbrannten und sich insbesondere infolge des chronischen Personalmangels im 19. Jahrhundert zuspitzten.

Wie die folgenden Kapitel verdeutlichen, erfreute sich das Apostolat ausserhalb des Kollegs grosser Beliebtheit. Kontakt zu den Lai:innen entstand in der Stadt vor allem während Prozessionen, auf dem Land durch Missionen, die sich jedoch sehr unterschiedlich auf das Kantonsgebiet verteilten. Das religiöse Angebot, das den Gläubigen unterbreitet wurde, kombinierte das Universelle mit dem Lokalen, wie es für den nachtridentinischen Katholizismus insgesamt typisch war. Über die Loretokapelle etwa vermittelten die Jesuiten Freiburg die Möglichkeit der Teilhabe an einer weltumspannenden Frömmigkeitspraktik, die hier durch einen Kirchenbau mit eingeprägtem Freiburger Wappen partikularisiert wurde. Die Spannungen zwischen lokalen und römischen Interessen wurden insbesondere in der Heiligenverehrung deutlich. Neben den universellen jesuitischen Heiligen pflegten die Freiburger Patres auch den Kult um Peter Canisius, der 1597 nach 17-jähriger Missionstätigkeit im Kanton im Geruch der Heiligkeit verstorben war. Dessen Lokalkult war geprägt von dem Bemühen, eine von Rom nicht autorisierte Verehrung aufrechtzuerhalten, ohne gegen das strenge Regelwerk der Kurie zu verstossen, das die Huldigung von nicht heiliggesprochenen Personen zunehmend einschränkte. Mit einem «jeu de dupes entre promotion du culte et respect des prescriptions romaines» (S. 348) konnte ein lokaler Kult gepflegt werden, dessen Regularisierung mittels einer Selig- und Heiligsprechung mangels finanzieller Mittel in weite Ferne rückte (und tatsächlich erst 1864 bzw. 1925 erfolgte). Die Religiosität, die die Jesuiten propagierten, zeichnete sich durch eine barocke Kontinuität aus, die bis ins 19. Jahrhundert anhielt. Gerade am Beispiel der Hagiografien zu Canisius kann Aeby jedoch leichte Verschiebungen nachweisen. Die Viten deuteten den Lokalheiligen im 19. Jahrhundert zusehends zur Speerspitze gegen die Moderne um: Dank seiner Tätigkeit als Missionar gegen den Protestantismus im späten 16. Jahrhundert wurde er zum frühen Wegbereiter des Kampfes gegen die Aufklärung und die Französische Revolution. Canisius verkörperte im Rückblick jenen intransigenten Katholizismus, den sich die Freiburger Jesuiten nach der Restauration auf die Fahnen geschrieben hatten.

Es entbehrt nicht einer gewissen Ironie, dass die Jesuiten, die sich in Freiburg während der Jahrzehnte der Auflösung besser halten konnten als anderswo, letztlich an dieser Unnachgiebigkeit scheiterten. Wie Aeby in einem kurzen Fazit darlegt, zerbrach der Jesuitenorden in Freiburg an seiner globalen Vernetzung und seinem nicht mehr anpassungsfähigen Konservatismus, die ihn auf Kollisionskurs brachten mit einem erstarkenden Liberalismus: in Freiburg bereits ab den 1830er Jahren, ab 1848 auch im neuen Bundesstaat, der die Jesuiten bekanntlich auswies. Noch einmal bestätigt sich, dass die Jesuiten am Vorabend des Sonderbundkrieges eine «logique jusqu’au-boutiste» (S. 61) entwickelten, die dem Orden im 18. Jahrhundert noch fremd war.

Mit dem Anliegen, die Interaktionen der Jesuiten mit ihrem weltlichen Umfeld aus mikrohistorischer Perspektive zu analysieren, ist Aebys Studie auf der Höhe der aktuellen Forschung zu Ordensgemeinschaften. Anders als die Arbeiten von Christian Windler (2018) und die im Entstehen begriffenen Dissertationen seiner Schüler:innen schreibt Aeby seine Geschichte aber vor allem aus einer sozialgeschichtlichen, weniger aus einer kulturhistorischen Perspektive. Eine solche würde es jedoch erlauben, die Aushandlungsprozesse in den Blick zu nehmen, die aufgrund der normativen Vorgaben der Ordensregel und der römischen Zentrale unweigerlich nötig wurden, sobald Jesuiten mit der «Welt» in Kontakt traten. Aebys Quellen liefern für einen solchen praxeologischen Zugang vielfältiges Material, wie seine eigenen Überlegungen zum Umgang mit unterschiedlichen ökonomischen Normen im ersten Teil oder den widersprüchlichen Deutungen der Constitutiones im dritten Teil beispielhaft zeigen. Der Rezensent bedauert deshalb, dass solche Fragenstellungen zurücktreten hinter quantitative Auswertungen, deren Aussagekraft über den Freiburger Fall hinaus fraglich ist. Zweifellos wären mit einem kulturgeschichtlichen Zugriff die Bruchlinien innerhalb des Ordens, für die sich Aeby ja besonders interessiert, noch stärker in den Vordergrund getreten.

Dieses methodische Monitum schmälert allerdings die inhaltlichen Verdienste dieser Studie keineswegs. Zum Jesuitenorden in der Sattelzeit sind im letzten Jahrzehnt wichtige Sammelbände entstanden, die sich insbesondere mit den Kontinuitäten und Brüchen zwischen alter und neuer Gesellschaft befasst haben. Doch wie Pierre-Antoine Fabre, Zweitbetreuer der Dissertation und seines Zeichens massgeblich verantwortlich für die Aufarbeitung dieser historiografischen Leerstelle (vgl. Fabre und Goujon 2014; Fabre, Goujon und Morales 2016 und 2021; Fabre und Pierre 2022), in seinem Vorwort hervorhebt, wird hier mit zum ersten Mal in einer Monografie systematisch die Geschichte der Gesellschaft Jesu dies- und jenseits ihrer Aufhebung aufgearbeitet. Der Raum, der für diesen Zweck gewählt wurde, wartet dafür mit reichhaltigen Quellenbeständen auf, die der Autor gewissenhaft ausgewertet und gekonnt aufbereitet hat. Der Kanton Freiburg weist aber auch zahlreiche Anomalien auf, die einen gesamteuropäischen Vergleich erschweren: ländlich, kleinräumig, republikanisch, umzingelt vom viel grösseren und vor allem protestantischen Bern. Wie repräsentativ die hier vorgelegten Ergebnisse sind, werden deshalb – wie es sich für Pionierarbeiten gehört – weitere Studien weisen müssen.

Zitierweise:
Weber, Samuel: Rezension zu: Aeby, David: La Compagnie de Jésus de part et d’autre de son temps de suppression: les jésuites à Fribourg en Suisse aux XVIII e et XIXe siècles, Padova 2020,. Zuerst erschienen in: Schweizerische Zeitschrift für Geschichte 73(3), 2023, S. 378-383. Online: <https://doi.org/10.24894/2296-6013.00134>.

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